Dieser Text ist ein unveränderter Abdruck des in den Schaumburger Heimatblättern 2006 erschienenen Beitrags der Autorin.
Gisela Horn
Lulu von Strauß und Torney-Diederichs - ein Beispiel weiblicher Anpassung
Im Januar 1916 erschien in der Zeitschrift „Die Tat“ ein Aufsatz unter dem Titel „Die Tragik der Geschlechter“, der wie kaum ein anderer Zuspruch und Widerrede fand.18 Er stammte aus der Feder von Lulu von Strauß und Torney, die zu den namhaftesten Schriftstellerinnen ihrer Zeit gehörte und auch im Privaten gerade zu diesem Zeitpunkt ihr Glück zu gewinnen schien, denn sie hatte sich wenige Monate vorher mit dem Herausgeber dieser Zeitschrift, Eugen Diederichs, einem der bekanntesten Verleger Deutschlands, verlobt. Doch anstatt die Erfahrung künstlerischer und privater Erfüllung einer Frau zu thematisieren, schrieb sie in tragischer Perspektive über die Lebensenttäuschung, die notwendig jede Frau erfahren müsse: „Die Erkenntnis, dass die Frau für den Mann, der ihr selbst Schicksal ist. nur Erlebnis bedeutet - vielleicht sein schönstes, vielleicht ein heiliges Erlebnis, aber immer nur Erlebnis, eins unter vielen, etwas, das man ergreifen und wieder loslassen kann [... ] Diese Erkenntnis ist nicht etwa nur eine Enttäuschung, sie ist die große Lebensenttäuschung der Frau, die Tragik zwischen den Geschlechtern. Ob sie mit der Wucht eines schweren Schicksals kommt, oder bei Kleinem in lächerlichen Alltäglichkeiten, erspart bleibt sie keiner Frau. Ihr letztes völliges Erfassen bedeutet für sie die Lebenswende, ihre Stellungnahme zu ihr das innere Schicksal."
Am 19. Juni 1956, also vor 50 Jahren, starb in Jena im Alter von 85 Jahren l.ulu von Strauß und Torney. Der Schaumburg-Lippische Heimatverein nimmt das Dalum zum Anlass, um sich - unter unterschiedlichen Vorzeichen - mit Leben und Werk der hierzulande wohl bekanntesten, am 20.9.1873 in Bückeburg geborenen und später in Jena lebenden Dichterin auseinanderzusetzen.
Zum Auftakt gab es 15. Februar ein Referat von Eva Rademacher in Bückehurg. Am 21. Juni folgte ein Lichtbildervortrag von Birgit Gudziol aus Jena in Stadthagen. In der letzten Ausgabe der Heimat-Blätter“ hatten wir Lulu von Strauß und Torney durch Abdruck ihres autobiographischen Aufsatzes „Vom Werden meiner Bücher" sozusagen „selbst zu Wort kommen lassen“. Und im vorliegenden Heft präsentieren wir als weiteren Baustein einen Beitrag der Jenaer Literaturwissenschaftlerin Dr. Gisela Horn - nach Einschätzung vieler Beobachter und Fachleute das Beste, was bisher über die einstmals hoch gelobte und heute wegen ihrer Nähe zum NS-Regime oft (und allzu oft mit leichter Hand) kritisierte Schriftstellerin geschrieben wurde.
Gisela Horn ist studierte Historikerin und Germanistin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Inhaltliche Schwerpunkte ihrer zahlreichen Veröffentlichungen und Forschungsprojekte zur Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts sind Frauen- sowie Kulturgeschichte.
Der von uns ausgewählte und hier wiedergegebene Aufsatz wurde von Gisela Horn für die Reihe „Bausteine der Jenaer Stadtgeschichte“ verfasst und ist in Bd. 5 („Entwurf und Wirklichkeit“) der Reihe „Frauen in Jena 1900 bis 1933“(Hain Verlag Jena, 2001, ISBN 3-89807- 022-0) erschienen.
Diese Zustandsbeschreibung verknüpfte die Autorin dann mit Empfehlungen, wie man trotz dieses „großen dunklen Willen der Natur" nicht auf einem „toten Punkt" verharren muss, sondern Erlösung finden kann: „Dem Manne liegt das Lebenszentrum im Gehirn, der Frau im Schoß" - also scheint zunächst die Mutterschaft eine Möglichkeit der Selbstversicherung; allein, so stellte die selbst kinderlose Lulu von Strauß und Torney fest, das Kind ist letztlich nur Mittel, um den Mann als Erlöser zu erfahren: ..Aber der Mann ist es, der ihr diese Erlösung schenkt [...] und im Kinde lebt sie den Mann, im Manne das Kind. " Geprüft werden muss also ein anderer Weg: „Ist die Frau als Künstler eine Lösung des Problems? [...] Das Kunstwerk des Weib-Künstlers ist das Kind eines Zwiespaltes, nicht eines Zusammenstrebens von Kräften, und darum muß ihm die letzte höchste Schöpferhöhe - eine Höhe, die ja freilich auch unter Männern nur alle paar Jahrhunderte einer erreicht - für alle Zeiten nach innerem Gesetz versagt bleiben. “ Was bleibt also? „Sollen wir unsere Tragik überwinden, so müssen wir Ja zu ihr sagen. Wir müssen unsere Tragik lieben. Und die Frau, die ihre letzte Überwindung und Vollendung finden will, muß leben, was die Tragik ihres Lebens - hätte werden können. Muß das Werk des Mannes lieben mit tiefster Liebe. Weil sie im Werk ihn selber hebt, sein eigenstes Ich. seine Erlösung, seine höchste Höhe und Vollendung."
Es ist ein Leichtes, zwei Menschenalter später über diese emphatischen Bekenntnisse hinwegzublättern. den Kopf zu schütteln, zu lachen. Ärgerlich sind sie kaum noch, denn nicht nur sozialwissenschaftliche Forschungen, nein, auch die Geschichte der Frauen und schließlich weibliche Lebenserfahrungen haben gezeigt, dass die „Tragik der Geschlechter“ nicht auf solche Art festgeschrieben ist. Und selbst zur Zeit der Veröffentlichung gab es Einspruch von verschiedenen Seiten.19
Was uns hier interessiert, ist etwas anderes: Was war das für eine Frau, die sich in eine tragische Situation verstrickt sah, die bisher selbständig und unabhängig gelebt hatte und sich nun als „Erlebnis" des Mannes bestimmte, die selbst als sprachbegabte und viel gelesene Schriftstellerin gerühmt wurde und doch allein dem Werk des Mannes Höhe und Vollendung zubilligte? Woher kam diese öffentliche Selbstverleugnung, diese Genügsamkeit, ja, diese Demut gegenüber dem Schicksal, das da „Mann" heißt?
Wer war Lulu von Strauß und Torney?20
Luise (Lulu) von Strauß und Torney wurde am 20. September 1873 in Bückeburg, der kleinen Residenzstadt des souveränen Landes Schaumburg-Lippe, geboren. In ihrem autobiographischen Prosatext „Das verborgene Angesicht" erzählte sie über ihre Stadt und Landschaft. Geschichte und Familie. Sie holte weit aus, um das Bürgerlich- Gediegene ihrer Herkunft zu veranschaulichen: Sie erzählte von den schönen alten, gegiebelten Häusern, den breitkronigen Burglinden, den Sagen und Liedern der Heimat; sie verweilte im alten Bückeburger Schloss und ging den landesväterlichen Spuren nach; sie begegnete in ihren Erinnerungen Johann Gottfried Herder und dessen junger Frau Karoline Flachsland, dem ältesten Sohn des großen Thomanerkantors Johann Sebastian Bach, den malenden Niederländern, die die Schlossräume ausgeschmückt hatten, und sie erinnerte an den „guten Freund meiner Kindheit und Jugend" - die hundertjährige Linde mit starkem Stamm und hoher dunkler Krone vor dem Elternhaus. Dieser Text, in Jena 1943 veröffentlicht, ist ein Heimatbild, das zahlreiche literarische Motive versammelt. Deshalb tut man gut daran, ihn nicht als authentische Beschreibung zu nehmen. Dies mag auch auf die Darstellung ihrer familiären Herkunft zutreffen: Es sind die ideologischen Versatzstücke jener Jahre, wenn sie von der ..Mutterahnen Blut, das ruft21 spricht, von dem „Erbe ihres ursprünglich bäuerlichen friesischen Blutes22, dem „strengen Gesicht der Herrenrasse"'23 usw. Festzuhalten sind vielmehr die nüchternen Fakten, die oft nur nebenbei milgeleilt werden: Der Vater war Generalmajor, mit dem Eisernen Kreuz im Krieg 1870/71 ausgezeichnet; er dankte bald ab und konnte sich dann frühzeitig der Erziehung und vor allem der musischen Ausbildung seiner fünf Kinder widmen. Die Mutter war bäuerlicher Herkunft, eher zuständig für das. was zu jener Zeit aller Frauen Dienst war: die Küche und die Kindererziehung, von „geistigen Dingen" redete sie kaum. Eine besondere Rolle bei der Ausbildung des heranwachsenden Mädchens spielte schließlich der Großvater. Es war der Dichterphilosoph Victor von Strauß, dem sie mit ihrem Buch „Vom Biedermeier zur Bismarckzeit" ein liebevolles Denkmal setzte. Auf ihre geistige Entwicklung hat wahrscheinlich dieser Großvater, der Goethe noch gekannt hatte und als Abgesandter in den deutschen Bundestag nach Frankfurt geschickt worden war, besonders eingewirkt. Förderung erhielt sie auch durch ihre Tante Hedwig von Schreibershofen, die selbst zahlreiche Romane veröffentlicht hatte und die nun die erste Veröffentlichung von Gedichten der jungen Lulu betrieb: 1889 erschien in einer Jugendzeitschrift das erste Gedicht der 16-Jährigen. Honorar: 3 Reichsmark. Was anfangs eine eher spielerische Form hatte - kindliche Reimversuche wurde bald zur ernsthaften Anstrengung. Lulu von Strauß und Torney hatte bildungsbeflissen die gutbürgerlichen Autoren ihrer Epoche zur Kenntnis genommen: Gustav Freytags „Ahnen", Felix Dahns „Kampf um Rom". Victor von Scheffels „Ekkehard", und sie besuchte, eher scheu, einen der großen Dichter der niederdeutschen Heimat - Wilhelm Raabe. All diese Bildungserlebnisse werden auf ihr eigenes Schreiben wirken, zu dem sie sich durch die Lektüre ermutigt fand. In dem national-konservativen Dichterkreis um Börries von Münchhausen in Göttingen und in freundschaftlicher Verbindung mit der Königsberger Schriftstellerin Agnes Miegel, die bis zu ihrem Tode währen sollte, fand sie zunächst eine geistige und wohl auch menschliche Heimat. Vor allem als Balladendichterin erregte sie schon früh Aufsehen, denn das dramatische Pathos und das kämpferisch-historische Sujet dieser Balladen traf den Geschmack der Zeit. Mit der Novelle „Bauernstolz" hatte sie ihre ernsthafte literarische Produktion eröffnet, von 1901 bis 1912 erschien fast jedes Jahr ein Buch von ihr auf dem deutschen Büchermarkt. Sie wählte ihre Stoffe und Figuren zumeist aus der niederdeutschen Gegenwart oder Geschichte und schilderte in einer genauen naturalistischen Sprache die menschlichen und auch sozialen Konflikte und Mühen der dörflichen Welt. So handelt etwa ihre erste „Dorfgeschichte aus dem Weserland“, die Novelle „Bauernstolz", von der Liebe zwischen einer reichen Erbhoftochter und einem Tagelöhner, die von der bäuerlichen Gemeinschaft zunächst nicht geduldet und erst durch den Tod der beiden Anerkennung erfährt. Ihr erster Roman „Aus Bauernstamm" handelt ebenfalls von einer ungewöhnlichen Liebe: Ein schriftstellemder Bauernsohn heiratet eine Berlinerin, der Gegensatz zwischen Dorf- und Stadtkultur wird entfaltet und zugunsten der dörflichen Welt aufgehoben. Auch in den meisten anderen ihrer Bücher wird die Kraft des Bäuerlichen gefeiert. Gegen eine entseelte industrialisierte oder fremdbestimmte Welt, die in den Erzähltexten freilich nur schattenhaft Gestalt gewinnt, werden die elementaren naturhaften Gewalten „Blut" und „Erde“ als schicksalsbestimmend gesetzt. Natürlich empfahlen sich diese Bücher dann der späteren nationalsozialistischen „Blut-und-Boden-Ideologie“, und so war es durchaus folgerichtig, wenn ihr 1911 erschienener Roman „Judas“ als Muster tür die literarische Umsetzung des Erbhofgedankens auch von der nationalsozialistischen Literaturgeschichtsschreibung gerühmt wurde. Immerhin zollte Lulu von Strauß und Torney dieser „Ehre“ Tribut, indem sie den Roman 1937 mit dem geänderten Titel „Der Judashof' versah. Dass diese Vereinnahmung nur gelang, weil man die Sozialethik dieser Texte ignorierte, hat einleuchtend der Literaturwissenschartier Clemens Hesselhaus herausgearbeitet und damit auch auf die besondere positive Leistung ihrer literarischen Texte verwiesen.24 Die Schriftstellerin selbst hatte sich aber gegen diesen Missbrauch weder verwahrt noch gewehrt, sondern die Anerkennung durch die nationalsozialistische Literaturpolitik eher gesucht.
Zunächst aber sehen wir Lulu von Strauß und Torney noch in dem provinziellen Bückeburg. Die ersten Erfolge als Schriftstellerin mögen für sie eine Einladung gewesen sein, sich nun auch in die große Welt zu begeben. Als zunehmend anerkannte Autorin reiste sie zu vielen Vortragsabenden im In- und auch im Ausland, die wohl zur Absicherung ihrer materiellen Existenz von Wichtigkeit waren. Aber sie konnte es sich nun auch leisten, für ihre Interessen zu leben, Museen und Ausstellungen zu besuchen. So führte sie eine längere Reise im Februar 1903 in die Kunst- und Boheme-Stadt München. Als zurückhaltende, eher schüchterne Frau erschien sie dort auf einem Faschingsfest, erregte jedoch Aufsehen mit ihrer Kostümierung. Die junge Dame mit einem Kleid, das von vielen Zetteln mit Gedichtfetzen bedeckt war, wurde von einem jungen Studenten angesprochen: Theodor Heuss. Es begann eine lang anhaltende Freundschaft, deren Briefe uns Auskunft geben über das unterschiedliche Denken und Fühlen einer Generation.25
Briefe haben Theodor Heuss und Lulu von Strauß und Tomey über mehr als zehn Jahre gewechselt, und im hohen Alter wird die Schriftstellerin noch einmal zum Briefpapier greifen, um dem ersten Präsidenten der Bundesrepublik zu seiner Wahl zu gratulieren.
In großer Herzlichkeit, gelegentlich mit neckischem Unterton, schrieben sich hier zwei Menschen, die doch sehr verschieden waren: Theodor Heuss legte schon nach sechs Studiensemestern sein Doktorexamen ab und ging danach in die Großstadt Berlin, um dort als Redakteur einer liberalen Zeitschrift Anteil am politischen und kulturellen Leben der Stadt zu nehmen. Thema seiner Briefe waren denn immer wieder auch die politischen und sozialen Zustände in Deutschland. Lulu von Strauß und Torney schien dagegen den eher schöngeistigen Part übernommen zu haben. Sie schrieb vor allem über die Kunstbände, die auf ihrem Schreibtisch in Bückeburg lagen, über die Ausstellungen, die sie besuchte usw. Und immer wieder erbat sie von dem finanziell wohl besser gestellten Heuss Lesestoff. Auf politische Themen ging sie kaum ein, selbst bei Frauenthemen schien Theodor Heuss der Engagiertere zu sein. Er besuchte im Mai fast den ganzen bayerischen Frauentag und machte dort Bekanntschaft mit den Frauenrechtlerinnen Gertrud Bäumer und Dr. Käthe Schirmacher.26 Doch statt Interesse fand er bei seiner Briefpartnerin nur Ironie: „Daß der Frauentag Sie so interessierte, machte mich lachen. Ich habe für diese allerlinkseste (schönes Wort!) Emanzipation nur wenig übrig. Es ist ja ganz gut. wenn mehr Berufe aufgeschlossen werden, aber unsre Natur können wir doch nicht ändern, und wer Charakter hat, wird sich schon durchsetzen auch ohne Stimmrecht. "27 Diese anmaßende Selbstgewissheit fing erst an abzublättem, als ihr die Welt der Politik ganz hautnah erfahrbar wurde. Der Erste Weltkrieg schien ein Schock für sie gewesen zu sein, denn nun konnte sie sich den politischen Fragen nicht mehr entziehen. Sie wandte sich entschieden gegen eine ..nationale Selbstbeweihräucherung, die heutzutage so vielfach als gleichbedeutend mit Patriotismus gilt“, und warnte hellseherisch: „Ich fürchte, nach einem für uns siegreichen Kriege wird diese Selbstapotheose bis zum Unerträglichen wachsen, und die Warner dagegen werden als vaterlandslose Gesellen verschrien. “28 Dies wurde dann freilich auch nach dem verlorenen Krieg Realität. Das Leidvolle des Krieges erfuhr sie selbst, als sie die Nachricht vom Tode ihres Neffen ereilte und sie schließlich auch ihren engsten Freund, den Maler Otto Soltau, betrauern musste. Unter dem Eindruck der politischen Veränderungen wandelte sich auch ihre Auffassung zur Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben. „Es ist ordentlich schade, daß wir das Wahlrecht der Frauen noch nicht haben."29 heißt es nun.
Lulu von Strauß und Torney musste für wenige Monate aus ihrer abgeschlossenen Bückeburger Schreibstube heraustreten und als Bibliothekarin eines Feldlazaretts sozialen Dienst leisten. Und sie äußerte sich gegenüber Theodor Heuss anerkennend über dessen Frau Elli, die in Stuttgart sozialpolitische Kurse durchführte und sich stark für soziale Belange einsetzte: „Gerade jetzt sind gescheite Frauen wie Elli uns notwendig wie das tägliche Brot. Sie glauben gar nicht, wie überflüssig man sich manchmal dagegen vorkommt! Aber jeder kann eben nur seinen innerlich vorbestimmten Weg gehen''30, heißt es in ihrem letzten Brief an Heuss in jener Zeit.
Während sich unter dem Eindruck der politischen Ereignisse der Erfahrungsraum Lulu von Strauß und Torneys zu wandeln schien, bahnte sich zugleich eine grundsätzliche Veränderung in ihrem privaten Frauenleben an. Schon Pfingsten 1906 hatte sie während einer Tagung der Goethe-Gesellschaft in Weimar den berühmten Verleger Eugen Diederichs kennen gelernt, über lose Kontakte war es aber nicht hinaus gekommen. Als die Schriftstellerin dann 1915 einen neuen Verleger lür ihren Roman „Der jüngste Tag" suchte, erinnerte sie sich an diese Bekanntschaft und schrieb ihm: „Ich wüßte keinen Verlegernamen, den ich lieber auf dem Titelblatt meiner Bücher sähe, als den Ihren. "31Diederichs antwortete ihr freundlich, und eine Geschäftsbeziehung bahnte sich an, die bald in eine enge persönliche Beziehung münden sollte. Die partnerschaftliche Hinwendung erfolgte fraglos durch Eugen Diederichs, der nach seiner Trennung von Helene Voigt-Diederichs sein Alleinsein zunächst erprobte, dann jedoch eine neue dauerhafte Beziehung zu knüpfen versuchte. Er brauchte für sein großes offenes Haus eine Hausdame und Wirtschafterin, seine vier heranwachsenden und zum Teil schwierigen Kinder mussten betreut und in das Leben geführt werden, und er benötigte schließlich einen „Lebenskameraden“, eine Frau. In einer autobiographischen Skizze hat er selbst ausführlich dargestellt, welcher Art die Frauen waren, die in jener Zeit seinen Lebensweg kreuzten.32 Er konnte sich entscheiden zwischen der „mystisch - innigen - geistvollen Frauenseele“ der Sent M'ahesa. dem "jungen Naturkind" Käthe Zimmermann und dem „reifen resignierten Künstlermenschen" Lulu von Strauß und Torney. Eingehend geprüft hat er sie alle drei, die mehrere Monate abwechselnd Gast seines Hauses waren. Entschieden hat er sich schließlich während einer gemeinsamen Wesertalwanderung lür die 43jährige Lulu von Strauß und Torney. Seinem Hang zur theatralischen Inszenierung nachgebend, schilderte Eugen Diederichs diese Szene so:
".. Wir waren gerade auf einer auf Bergshöhe gelegenen Lichtung mit einzelnen großen Eichen, als das drohende Gewitter sich in Sturm und Nebelschwaden auflöste, jeden Augenblick drohte ein elementares Wetter loszubrechen, Götteruntergangsstimmung.
Da ein Blitz und greller Donnerschlag, der durch den nahen Buchenwald hallte, aber kein Regen kam, kein Gewitter. Diese kosmische Ballade wandte unser Ich zum Du."33
Wir wissen nicht, wie Lulu von Strauß und Torney diesen Moment erlebt hat, sicher hätte sie in ihrer eher zurückhaltenden Art schlichter formuliert, aber ein Wendepunkt war diese Wesertalwanderung in ihrem Leben ganz sicher auch, denn ein halbes Jahr später war sie verlobt, am 18. April 1916 heiratete sie Eugen Diederichs und lebte von nun an die nächsten vierzig Jahre bis zu ihrem Tode in Jena. Damit begann ein Lebensabschnitt, der zu ihrem vorherigen Leben nicht zu passen scheint. Die selbstbewusste und viel gefragte Künstlerin, die bisher überaus produktiv war und in der literarischen Öffentlichkeit ihrer Zeit eine Rolle gespielt hat, wird ihre Künstlerexistenz weitgehend aufgeben, kaum noch etwas Literarisches mehr schreiben und hauptsächlich als Verlagslektorin des Eugen Diederichs Verlags, also letztlich im Dienste ihres Mannes, wirken. Theoretisch begründet hat sie diese existentielle Veränderung in ihrem Aufsatz „Die Tragik des Geschlechts“, menschlich nachvollziehbar wird diese Wendung wohl nur, wenn man sozialpsychologische Überlegungen anstellt. Doch hier ist Vorsicht geboten, denn wir verfügen kaum über Selbstaussagen der Dichterin aus jener Lebensepoche.
Die Kulturwissenschaftlerin Meike G. Werner hat in einem kenntnisreichen Aufsatz unter dem einleuchtenden Titel „Gruppenbild mit Dame. Der Verleger Eugen Diederichs. die Frauen ... und deren Emanzipation"34 einen anderen interessanten Interpretationsansatz gewählt. Lulu von Strauß und Torneys Platz im Geschlechterensemble der Epoche bestimmt sie, indem sie die männlichen Projektionen des Eugen Diederichs für das Weibliche untersucht. Mit dem Verweis auf altgermanische und mittelalterliche Frauenbilder werden in seiner letzten Lebensphase „gotisch“, „nordisch", „demütig“ als Leitbegriffe gesetzt, von denen aus die Funktion der Frau als „Dienende“ und „Opfer", als sozial Arbeitende und Mutter bestimmt wird.35 Lulu von Strauß und Torney wird sich diesem Frauenbild anpassen.
Als Eugen Diederichs' grundlegender Aufsatz zu diesem Thema „Vom Adel der Frau“ erschien, lebte Lulu von Strauß und Tomey schon seit mehr als einem halben Jahr in seinem Haus in der Sedanstraße 8 (heute Ebertstraße), als "Lebenskamerad". Briefe aus jener ersten Zeit zeigen, wie engagiert sie sich in diesem großen Haus mit seinen vielfältigen Verpflichtungen zurechtzufinden versuchte. Es war die Zeit des Ersten Weltkrieges, und allmählich wurde es auch in Jena schwer, einen geregelten Tagesablauf, und das hieß auch: das tägliche Brot zu organisieren. Ihr Briefwechsel mit Richard Benz in Heidelberg 36, einem der bedeutenden Literatur- und Kunstwissenschaftler jener Epoche, wird so auch nicht durch Schöngeistiges ausgezeichnet, sondern es war die tägliche Sorge um die Ernährung Gegenstand des Schreibens. In zwei Briefen und auf sechs Seiten wurde ausführlich erörtert, wie der Transport von Maronen zu organisieren sei, denn die waren in Jena nicht zu haben, aber als besonders nahrhafte Speise gut geeignet, die Mängel in der eigenen Küche zu beheben. Die Maronen kamen nicht an - „ überhaupt scheint hier in Jena besonders systematisch gemaust zu werden "37 -, und es wurde eine neue Bestellung aufgegeben, wieder eine ausführliche Erörterung der postalischen Verhältnisse angefügt usw. Nicht nur die Küche, auch die Kinder verlangten Hinwendung. Die erste Ehefrau Eugen Diederichs’, Helene Voigt-Diederichs, hatte sehr entschieden die Einlösung ihrer eigenen Bedürfnisse, auch gegen die Kinder und deren Vater, durchgesetzt - Lulu von Strauß und Tomey-Diederichs musste nun die damit verbundenen Schwierigkeiten aushalten. Auch dies tat sie mit großem Engagement. Die selbst kinderlose Frau sorgte und kümmerte sich, besonders um Ruth, die die Anlage zur Depression von väterlicher und wohl auch mütterlicher Seite geerbt hatte. Sie erteilte Zuspruch und gab Hilfe, bat Freunde um Unterstützung, organisierte die Lebensumstände der Kranken. Und es war zunehmend Eugen Diederichs selbst, der ihres Beistands bedurfte. In den zwanziger Jahren häuften sich seine schweren depressiven Zustände, wurden erste Lähmungserscheinungen als Ergebnis eines fortschreitenden Nervenleidens sichtbar, wurde er schließlich ganz zum Pflegefall. Briefe aus jener Zeit zeigen Lulu von Strauß und Torney ganz auf der Höhe dieser Aufgaben, die sie mit großem Einfühlungsvermögen und in Liebe wahrzunehmen suchte. Im häuslich-familiären Milieu hatte sie ihre Rolle als Helfende und Dienende eingenommen. Doch so verkürzt, wäre ihre Jenaer Existenz nicht richtig beschrieben. Denn neben den hausfraulichen Pflichten beteiligte sie sich auch an der ausgeprägten Geselligkeit des Hauses. Fotos aus dem Sera-Kreis zeigen sie als blumengeschmückte Teilnehmerin, sie organisierte zu jedem runden Geburtstag Eugen Diederichs' große Festivitäten, schrieb und inszenierte selbst kleine Freispielszenen, in denen wiederum die Diederichs-Kinder ihre Rolle erhielten. Sie pflegte die Freundschaften und sprang als Briefeschreiberin ein, wenn Eugen Diederichs selbst zu krank oder überarbeitet war. Schließlich nahm sie auch eine öffentliche Rolle innerhalb der Jenaer Sozietät wahr. Sie begleitete gesellschaftliche Ereignisse mit Lesungen aus ihren eigenen, früher geschriebenen Texten, sie nahm regen Anteil an der Gründung der Volkshochschule und feierte dies mit einem emphatischen „Vorspruch“38, organisierte Lesungen für diese neue Bildungseinrichtung usw. Sie gehörte zu den Gründungsmitgliedern der „Gesellschaft der Freunde der Universität“ und wirkte schließlich im Beirat dieser Gesellschaft mit. Ihr eigentliches Arbeits- und Wirkungsfeld wurde aber zunehmend der Verlag ihres Mannes.
Schauen wir auf Lulu von Strauß und Torney zu Beginn ihres Jenaer Aufenthalts, so entsteht das Bild einer viel beschäftigten und engagierten Frau, die im Privaten und im öffentlichen gleichermaßen intensiv lebte. Dies scheint der Behauptung zu widersprechen, dass jene Frau nach ihrer Heirat mit Eugen Diederichs sich zurückgenommen und angepasst hätte. Und es wäre sicher auch falsch, ihre Aktivitäten im häuslichen Bereich und in der Jenaer Öffentlichkeit gering zu schätzen. Das Maß für die Bewertung müssen wir vielleicht sie selbst anlegen lassen. Über ihre Berufung zur Schriftstellerin hatte sie immer wieder reflektiert und noch 1940 in dem vom Eugen Diederichs Verlag herausgegebenen Sammelband „Dichter schreiben über sich selbst“ bekannt:.. Was in einer Entwicklung, einem Lebenswerk zuerst als Ahnung, als tastender Versuch begann, das erkennt später der Schaffende selbst rückschauend als einen vorgeschriebenen klaren Weg. auf dem er einen inneren Auftrag zu erfüllen hatte. Dieser Auftrag aber, so vielgestaltig und verschieden er auch erfüllt werden kann und mag, bleibt im letzten doch immer nur der eine, unabänderlich gleiche: bildhaft sichtbar zu machen in lebendiger Gestalt, in Tal und Erleiden, in Schuld und Sühne, in Gewissensforderung, Bewährung und Opfer jenes große Gesetz alles Lebens, das sich in Menschenschicksalen wie in Völkergeschicken vollzieht, und hinter dem wir in Ehrfurcht und von fern das verborgene ewige Angesicht ahnen.39 Diesen „vorgeschriebenen klaren Weg" der „bildhaften“ Gestaltung wird sie jedoch in Jena nicht mehr weitergehen können; der »innere Auftrag« wird nicht eingelöst, ln diesem Sinne waren ihre Ankunft in Jena und ihre Heirat mit Eugen Diederichs ein wirklicher Wendepunkt in ihrem Leben; wir entdecken die Ein- und Unterordnung einer Frau in einen männlich geprägten Wirkungsraum. In diesem Sinne lebte sie die von ihr formulierte „Tragik des Geschlechts“ selbst: „Der Mann wird zum Schicksal.“
Die Entscheidung dafür war freiwillig getroffen worden, und Lulu von Strauß und Torney „erlitt" diese Lebenssituation auch nicht, sondern gestaltete sie selbst aktiv mit. Nicht nur im häuslichen Bereich und in der Jenaer Geselligkeit, vor allem in der Verlagsarbeit konnte sie ihre intellektuellen Fähigkeiten einbringen und ihren künstlerischen Interessen nachgehen. Es scheint, als ob sie zumindest seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre den Verlag wesentlich selbständig geprägt hatte. Irmgard Heidler hat in ihrer umfangreichen Promotionsschrift „Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896-1930)“ ausführlich dargestellt, wie groß ihr Einfluss auf das Verlagsprogramm war und welche Folgen das hatte. Die These ist nachvollziehbar, dass der Verlag dort an Modernität und damit auch an Bedeutsamkeit verlor, wo sie ihren eigenen Kunstverstand zum Maß nahm. Ihr sehr konventioneller Literaturbegriff, der sich dem Literaturkanon des 19. Jahrhunderts verpflichtet fühlte und die modernen literarischen Strömungen der Jahrhundertwende eher ignorierte, favorisierte die historische Belletristik und Autoren wie Carl Spitteler, Otto Gmelin und Hans Friedrich Blunck, aber auch Lyrik aus der Feder von Victor Meyer-Eckhardt - eines Autors, den schon damals kaum einer lesen wollte - oder gar talentlose Heimatdichter wie Hans Christoph Kaergel. Interessant für unseren Zusammenhang sind die Frauendarstellungen, die - von Eugen Diederichs herausgegeben - von Lulu von Strauß und Torney selbst verfasst worden sind.40 Es handelt sich dabei um historische Frauenporträts aus der Zeit der Sachsenkaiser und der Hohenstaufen und um die Lebensbeschreibung der Heiligen Elisabeth, die in der Reihe „Deutsche Volkheit“ erschienen. Der Verweis auf das Mittelalter meinte nicht nur Historisches, sondern sollte auch an deutsche Frauentugenden erinnern wie Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und Demut. Sicher war es kein Zufall, dass Lulu von Strauß und Torney gerade diese Frauengestalten wählte, um weibliche Geschichte darzustellen, und sie passte sich natürlich damit als Mitarbeiterin ihres Mannes auch gut in das Verlagskonzept ein, das sich zunehmend deutschen Volkstraditionen verbunden erklärte und nun bevorzugt das Altgermanische und Mittelalterliche beerbte. Sie wirkte auch als Übersetzerin, Kritikerin und Herausgeberin, verfasste und veröffentlichte ein einfühlsames Porträt ihres Großvaters Victor von Strauß und Torney - trotz ihres großen Arbeitspensums und intensiver Bemühungen um die Autoren des Verlags kam unter ihrer Leitung der Verlag jedoch zu keinem weiterreichenden künstlerischen Erfolg. Irmgard Heidler zieht das vernichtende Fazit, „daß sich der Verlag unter Lulu von Strauß und Torney augenfällig ins literarische Abseits manövrierte".41 Ob sie das selbst so empfunden hat. mag dahingestellt bleiben; ihre öffentliche Reputation hatte jedenfalls dadurch kaum Schaden genommen. Anerkennung und Verehrung als Schriftstellerin vermochte sie, die nun schon seit Jahren kein eigenes literarisch bedeutsames Werk auf den Büchermarkt gebracht hatte, zu gewinnen, indem sie sich den neuen Machthabern gefällig zeigte.
Es ist das wohl traurigste und zugleich fragwürdigste Kapitel im Leben der Lulu von Strauß und Torney, das sie während der Zeit des Nationalsozialismus zeigt. In ihrem Frühwerk hatte sie in Büchern wie „Das Meerminneken“ (1906) und „Lucifer" (1924) für Gedankenfreiheit und Toleranz geworben und Andersdenkenden - religiös oder sozial motiviert - Recht und vor allem Würde zugesprochen. Unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Machthaber scheint sich jedoch die Größe ihrer schriftstellerischen Arbeit und damit auch die Größe ihrer Persönlichkeit zu verlieren. Spätestens seit dem Tod von Eugen Diederichs 1930 arrangierte sie sich offen mit der nun allmählich alles beherrschenden Ideologie des Nationalsozialismus, und sie war sogar bereit, ihr eigenes literarisches Werk neu zu bewerten, ja umzuschreiben, wenn es der „neuen Bewegung" diente.
Ein trauriges Beispiel dafür bieten ihre Briefe an Will Vesper, der 1933 aktiv an der Bücherverbrennung beteiligt war und als Gauobmann des NS-Reichsverbandes deutscher Schriftsteller ausschließlich „arische Schriftsteller“ förderte und propagierte. Vesper hatte sie mehrfach eingeladen, etwas zu den von ihm herausgegebenen essayistischen und literarischen Sammelbänden beizusteuern. Am 9. Mai 1940 schlug sie ihm nun vor. ihr Gedicht „Geusenbotschaft" in den Lyrikband „Ernte der Gegenwart“ aufzunehmen. Wir kennen nicht den Antwortbrief Vespers, jedenfalls muss es sich um eine Zurückweisung und einen Gegenvorschlag gehandelt haben, denn wenige Tage später beeilte sich Lulu von Strauß und Torney in einem Brief zu versichern: „Selbstverständlich bin ich mit ihrer Wahl der Ballade „Das schwarze Korps. 1912" einverstanden. Sie haben recht, die ..Geusenbotschaft" wäre gerade heute nicht gut möglich"[...]42. Warum dieser Sinneswandel? Die Ballade „Die Geusenbotschaft"43 handelt von dem Aufstand der Niederlande gegen die spanische Herrschaft im 16. Jahrhundert und lobpreist den Widerstandswillen der Unterdrückten. Die Botschaft der Geusen ist eine Aufforderung, sich von Fremdherrschaft nicht besiegen zu lassen. Es ist nachvollziehbar, dass der nationalsozialistische Propagandist Vesper eine solch kämpferische, zur Gegenwehr auffordernde Ballade nicht in einer Zeit veröffentlichen wollte, da das faschistische Deutschland eben daranging, die Welt mit Krieg zu überziehen. Eine Woche nach diesem Briefwechsel überfielen die deutschen Truppen die Niederlande. Ihren „Lapsus" machte Lulu von Strauß und Torney wieder gut, indem sie der Veröffentlichung einer kriegerischen Ballade zustimmte, die deutsche soldatische Tugend und deutsches soldatisches Schicksal hervorhebt. Die Entscheidung Lulu von Strauß und Torneys gegen ein eigenes früheres Gedicht - und das heißt wohl auch gegen die unabhängige und widerständige Geisteshaltung, die diese Ballade auszeichnet - war kein zufälliger Akt, sondern kann als Zeichen dafür genommen werden, dass sich die Schriftstellerin mit ihrem Werk bewusst in den Dienst der nationalsozialistischen Machthaber stellte. Wenig später wird sie noch weiter gehen, indem sie ihr eigenes Werk verfälscht.44 1906 hatte sie mit der Veröffentlichung zweier Erzählungen für Aufsehen gesorgt: „Der Hof am Brink" und das „Meerminneke“ konnten als Beispiele für ihre lebendige und engagierte Erzählkunst gelesen werden. 1944 erschien die Erzählung „Das Meerminneke“ wiederum, doch dieses Mal in veränderter Gestalt. In der Fassung von 1906 war die Titelheldin ein jüdisches Mädchen, das vor der Inquisition aus Spanien geflohen war. 1944 wurde nun aus dem rothaarigen, blassen jüdischen Mädchen eine braunäugige, braungebrannte Maurin. Doch damit ändert sich nicht nur eine Äußerlichkeit, denn das Erzählgeschehen wird gerade mit der jüdischen Herkunft des Mädchens begründet. Dieses kennt die Heilige Schrift und ist so in der Lage zum kritischen Gespräch; sie wird die Toleranz fordernde „Lehrerin" des Christen Pieter, der mit ihr schließlich ein Liebesverhältnis eingeht. Die Veränderung nimmt dem Erzählgeschehen seine Logik und vor allem eine wichtige Dimension: die Toleranzidee. Natürlich lässt sich das mit den grundlegend veränderten politischen Verhältnissen begründen, denn die Veröffentlichung eines Textes, in dem ein jüdisches Mädchen als überragende Figur erscheint und obendrein den Christen in Liebe für sich gewinnt, war 1944 undenkbar. Nur, warum hatte dieser Text eigentlich neu aufgelegt werden müssen? Lulu von Strauß und Torney hätte sicher ohne Schwierigkeiten diesen Kniefall vermeiden können, andere Texte zur erneuten Veröffentlichung vorbereiten oder ganz und gar schweigen können. Statt dessen biederte sie sich den neuen Machthabern an, indem sie ihr eigenes Werk korrigierte und damit zugleich die Grundidee der frühen Erzählung - Toleranz zwischen Juden und Christen - aufgab. Es ist schwer vorstellbar, was sich in ihr tat, als sie ihr eigenes Stück Literatur im Interesse der nationalsozialistischen Ideologie bearbeitete: Vielleicht war es politische Überzeugung, vielleicht war es Geltungsstreben - so machte man auf sich aufmerksam; möglicherweise war es auch der Zwang, sich den Mächtigen anzupassen. Lulu von Strauß und Torney gehörte jedenfalls in der Zeit des Nationalsozialismus zu den ausgezeichneten Dichtem und Bürgern der Stadt Jena. Ihr 70. Geburtstag 1943 war eine hochoffizielle kulturpolitische Angelegenheit: Sie erhielt die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft und den Gaukulturpreis des Gaues Westfalen-Nord, sie erhielt die Ehrendoktorwürde der Friedrich-SchiIler-Universität Jena45, der Kreisleiter der NSDAP Müller eröffnete die Feierstunde anlässlich ihres Geburtstages im Haus der Frau Am Anger 13,46 sie wurde schließlieh als „Künderin deutscher Art [...], die kraft ihrer Kunst der Mitwelt den Weg zum deutschen Wesen wies"47 in der Laudatio der Jenaischen Zeitung gerühmt.
Lulu von Strauß und Torney lebte bis 1956 in der Beethovenstraße 15, doch über die Zeit nach 1945 wissen wir sehr wenig. Die frühere Freundin und Schriftstellerin Ina Seidel schrieb in ihrem Nachruf, dass „Lulu von Strauß und Torney in Jena aus der schweren Traumdämmerung ihrer letzten Jahre ins endgültig für alle, die ihr nahe standen, Unerreichbare entrückt worden war“, dass dies eine „Erlösung“48 gewesen sei. Begraben wurde sie an der Seite von Eugen Diederichs auf dem Jenaer Nordfriedhof.
Lulu von Strauß und Torney war eine merkwürdig gebrochene Gestalt. Als junge Frau emanzipierte sie sich aus dem provinziellen Bückeburger Milieu durch das Schreiben. Sie wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eine viel beachtete Schriftstellerin, deren frühes literarisches Werk in kraftvoller Sprache durch die Liebe zur Heimat und durch geschichtlichen Sinn geprägt ist. Sie war aber auch die Frau, die sich dem von Eugen Diederichs gesetzten Weiblichkeitsentwurf- die Frau als Arbeits- und Lebenskamerad -. und das hieß zugleich der Verzicht auf ein selbst bestimmtes Leben, bedingungslos anpasste und unterwarf. Die Bereitschaft zur Anpassung hatte schließlich auch Folgen im Politischen: das Arrangement mit der Macht.
Wie gewinnt Lulu von Strauß und Torney ihren Platz in der Galerie der Jenaer Frauen zu Beginn unseres Jahrhunderts? Sicher ist sie keine „Vorbildfigur“, aber sie steht für das Bemühen der Frauen zu Beginn unseres Jahrhunderts, eine eigene Ausdrucks- und Lebensform zu gewinnen. Unter dem Zwang zur Anpassung scheiterte sie, verlor sie an Persönlichkeit, verriet sie schließlich ihr eigenes Werk. Ihr Lebensgang ist ein Beispiel für die Schwierigkeiten von Frauen, sich selbst zu behaupten. Diese zu entdecken und zu diskutieren ist belangvoll.
Anschrift der Autorin:
PD Dr. Gisela Horn
Markt 26
Fußnoten:
18 STRAUSS & TORNEY 1916. S. 891-895.
19 Vgl. dazu die Kontroverse in: Die Tat. 7. Jg, März 1916; darin: Helene Weyl: Zur „Tragik der Geschlechter" / Eine Antwort. S. 1084-1086 und Nachwort der Redaktion. S. 1086-1087 und Max Fischer: Die Studentin, S. 1087-1091.
20 Es ist auch in diesem Fall bedauerlich, dass wichtige lebensgeschichtliche Dokumente nicht auffindbar oder nicht einsehbar sind. So kann nur ein ungefähres Bild entstehen, das seine Legitimität durch das literarische Werk der Lulu von Strauß und Torney, die derzeit wenigen zugänglichen Briefe und die Äußerungen von Zeitgenossen erhält.
21 STRAUSS & TORNEY 1943, S. 27.
22 Ebd.. S. 35.
23 Ebd.. S. 55.
24 Nachwort Clemens Kesselhaus zu: STRAUSS & TORNEY 1966.
25 DIEDERICHS 1965.
26 Ebd., S. 12, Heuss an Lulu von Strauß und Tomey. 12. Mai 1903.
27 Ebd., S. 14, Heuss an Lulu von Strauß und Tomey, 2'). Mai 1903.
28 Ebd., S. 194 f.. Heuss an Lulu von Strauß und Tomey, 16. August 1915.
29 Ebd.
30 Ebd., S. 185.
31 DLA, Nachlass Eugen Diederichs. Lulu von Strauß und Torney an Eugen Diederichs, 7. Januar 1915.
32 DLA. Nachlass Eugen Diederichs, Eugen Diederichs: Lehensaufbau. Unveröffentlichtes Typoskript 1920/21.
33 Ehd., S. 178.
34 WERNER 1999.
35 Vgl. DIEDERICHS 1116.
36 DLA. Nachlass Eugen Diederichs, Lulu von Strauß und Tomey an Richard Benz. 5. November 1417, 10. November 1917, 21. November 1917.
37 Ebd.. Lulu von Strauß und Tomey an Richard Benz. 5. November 1917.
38 STRAUSS & TORNEY 1919 VORSPRUCH.
39 DICHTER, S. 76.
40 STRAUSS & TORNEY 1926 und STRAUSS & TORNEY 1927.
41 HEIDLER, S. 629.
42 DLA, Nachlaß Eugen Diederichs, Lulu von Strauß und Torney an Will Vesper. 22. Mai 1940.
43 STRAUSS & TORNEY 1919 SAAT.
44 Vgl. HESSE, S . 90-107.
45 UAJ. Bestand BA 2034. Bl. 2 15. Die Verleihung der Ehrenbürgerschaft unter dem Rektorat des Professors für menschliche Erbforschung und Rassenpolitik Astel war an strenge Bedingungen geknüpft: „ob der Genannte deutschen oder artverwandten Blutes sei und oh er unter Rücksicht der früheren politischen Einstellung die unbedingte Gewähr dafür bietet, dass er jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintritt.“ (UAJ. Bestand 2034. Bl. 02) Es ist auch nicht uninteressant, dass unter Astels Rektorat noch einer weiteren Frau die Ehrenbürgerwürde verliehen wurde: Lisa Sauckel, die Frau des Gauleiters und Reichsstatthalters in Thüringen Fritz Sauckel. erhielt sie anlässlich der Geburt ihres 10. Kindes.
46 UAJ. Bestand BA 2034. Bl. 214.
47 Jenaische Zeitung, 20. September 1943.
48 SEIDEL. S. 66.