Lulu von Strauss und Torney und der Nationalsozialismus
Lulu (1873-1956) war eine ältere Schwester meines Großvaters und ist zu ihrer Zeit als Schriftstellerin und Dichterin von Balladen bekannt geworden. Bis zu meiner Schulzeit (ab 1954) waren ihre Werke auch noch in den Deutsch-Lesebüchern mit Gedichten enthalten - in den Schulbüchern unserer Kinder nicht mehr. Ich habe sie persönlich nicht näher kennengelernt. Meine Mutter und ich besuchten sie 1956 in Jena, wo damals auch mein Großvater, ihr Bruder, lebte. Sie war schwer dement und bettlägerig, mein Eindruck war nur der einer sehr kranken alten Frau. Sie sagte auch nichts zu uns.
Sie hatte als junge Frau ohne irgendeine klassische Ausbildung eine vielversprechende Karriere begonnen, Gedichte, Balladen und Romane veröffentlicht und konnte davon auch durchaus ein Auskommen haben. Sie war entsprechend ihrem Elternhaus zutiefst konservativ und religiös erzogen. Die auf ihre Besuche in München zurückgehende lebenslange Freundschaft mit dem Liberalen Theodor Heuss, unserem ersten Bundespräsidenten, mutet da fast anachronistisch an.
Sie lebte bis 1916 in ihrem Geburtshaus in Bückeburg, schrieb, führte Lesereisen durch und radelte zu den Kirchen der Umgebung, in deren Kirchenbüchern sie mitunter Stoff für ihre Novellen fand. Sie war in dieser Zeit auch mit Börries von Münchhausen bekannt, einem später glühenden Nationalsozialisten, der bei Kriegsende Selbstmord verübte. Börries, der selbst auch Gedichte und Balladen schrieb, erkannte ihr Talent und förderte sie nach Kräften indem er sie in eigenen Schriftreihen veröffentlichte.
1916 war sie schon 42 Jahre alt, Ihre Mutter hochbetagt, da hatte sie den Verleger Eugen Diedrichs kennengelernt, der nach einem neuen Lebenskameraden suchte, nachdem sich seine erste Frau Helene Voigt von ihm getrennt hatte. Neben zwei anderen Kandidatinnen fiel die Wahl von Eugen Diederichs auf Lulu und beide heirateten 1916 in Bückeburg - Lulu zog aus ihrem Elternhaus aus und bei Eugen Diederichs ein.
Die Verbindung veränderte Ihre Lebenswelt vollkommen. Sie wurde Hausherrin eines großen Hauses mit mehreren Kindern Eugen Diederichs aus erster Ehe und wurde auch nach und nach in die Verlagsarbeit integriert. Zudem musste zeitweise auch der manisch-depressive Eugen Diederichs von ihr gepflegt werden. Diederichs starb 1930. Der Verlag ging auf dessen (erwachsene) Söhne über, aber Lulu half bei der Leitung soweit als möglich.
1930 in Folge der Weltwirtschaftskrise begann die Umformung der Weimarer Republik zu einem Präsidialregime, bis 1933 die Nationalsozialisten die vollständige Macht übernahmen (“Machtergreifung”). Diese führten beinahe umgehend ihr rücksichtsloses Konzept der Gleichschaltung des gesamten politischen und kulturellen Lebens in Deutschland durch. Ein Buchverlag wie der Diederichs-Verlag konnte sich dem nicht entziehen, wenn er überleben wollte. Unter Eugen Diederichs war die Linie des Verlags durch die auch “völkischen” Interessen Diederichs geprägt aber noch nicht nationalsozialistisch gleichgeschaltet worden.
Mit der Übernahme durch die Söhne und den Prokuristen Max Linke passte man sich mehr an die Interessen der neuen Machthaber an und wurde damit wirtschaftlich deutlich erfolgreicher. Politisch missliebige Autoren wurden ausgelistet und nationalsozialistisch anerkannte Autoren neu aufgenommen. Rückblickend hatte der Verlag damit die Innovationskraft und Bedeutung der Jahre unter Eugen Diederichs verloren, stand aber bis 1945 wirtschaftlich sehr gut da. Allerdings war es unter den Nationalsozialisten absolut unmöglich, einen liberalen und fortschrittlichen Verlag zu führen. Es galt das Prinzip von Zensur und Gleichschaltung.
Die Nationalsozialisten hatten gleichzeitig das vor 1916 entstandene Werk von Lulu für sich als “völkische” Literatur entdeckt und vereinnahmten es als in ihrem Sinn anerkannte Literatur. Lulu wurde überhäuft mit Ehrungen und Auszeichnungen, die sie ohne erkennbaren Widerstand entgegen nahm. Sie unterzeichnete das Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler und wurde in die Liste der “1000 gottbegnadeten” Künstler und Schriftsteller (Gottbegnadeten-Liste) aufgenommen, die die Nationalsozialisten mit ihnen genehmen und vermeintlich linientreuen Persönlichkeiten publizierten.
In dieser Zeit der Diktatur und politischen Gleichschaltung hatten sich auch evangelische Kirchenkreise ab 1939 aufgemacht, die religiösen Texte des Neuen Testaments der Bibel an das nationalsozialistische rassistische und antisemitische Denken anzupassen. Sie gründeten das “Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben” und starteten den Versuch, ein “judenfreies” Neues Testament zu schreiben. Über 400 Pfarrer aus allen Teilen des Reichs waren Mitglieder oder Unterstützer dieses Instituts und wirkten an dem absurden Unternehmen mit.
Das sogenannte “Volkstestament” erschien 1941 und fand jedoch nicht den von seinen Verfassern erhofften Erfolg.
Aufklärung über diese unsägliche Geschichte von Teilen der evangelischen Kirchen im Nationalsozialismus verdanken wir dem Kirchenhistoriker Hans Prolingheuer, der sein Wirken wesentlich der Verstrickung der evangelischen Kirchen in die Nazi-Diktatur gewidmet hat. Die theologische “Bearbeitung” der Texte des Neuen Testaments musste vor der abschließenden Herausgabe in eine endgültige “dichterische” Fassung gebracht werden. Der wissenschaftliche Leiter des obigen Instituts, der Theologe Prof. Walter Grundmann war persönlich mit Lulu bekannt und hat sie offenbar gebeten, dieses zu übernehmen. Mitgeteilt wurde dies durch den damaligen Assistenten Grundmanns, den späteren thüringischen Kirchenrat Herbert von Hintzenstern (1916-1996), der dies 1989 anlässlich eines Besuchs bei Hans Prolingheuer diesem vermittelte. Für alles gibt es derzeit keinerlei schriftliche Belege aus der Zeit, gleichwohl ist die Mitteilung von Hintzenstern hoch plausibel. Birgit Jerke (jüdische Religionswissenschaftlerin) hat sich ebenfalls mit dem Volkstestament befasst und von Hintzenstern die Mittäterschaft von Lulu an dem Volkstestament bestätigt bekommen. Ich habe selbst hierzu mit Hans Prolingheuer um 2011 korrespondiert.
Hintzenstern hat die mündliche Mitteilung auch in einem Brief an Prolingheuer bestätigt und darin erwähnt, dass infolge Zeitnot beim Lektorat Lulu eine weitere bekannte Schriftstellerin hinzugezogen habe, deren Namen er jedoch partout nicht nennen wollte.
Neuere Forschungen des wissenschaftlichen Leiters und Kurators des Lutherhauses in Eisenach Dr. Jochen Birkenmeier (Zwischen Aufklärung und Verschleierung, Herbert von Hintzenstern, die Rechtfertigung des „Entjudungsinstituts“ und die Dichterinnen der „Botschaft Gottes“, 2019) zeigen. dass Hintzenstern hier wohl eher ein Ablenkungsmanöver von seiner eigenen Mitwirkung an dem sogenannten Volkstestament beabsichtigt hat. Dr. Jochen Birkenmeier zeigt auf, dass die gesetzte Mitteilung auf Lulu und die gelegte Spur auf eine vermeintliche zweite Dichterin der Abwälzung eigener Schuld auf Dritte diente und das die von ihm gegebenen Informationen mit aller Vorsicht zu betrachten seien.
Für unsere Familie ist gleichwohl diese (plausible) Mitwirkung und im Wortsinne mögliche Mittäterschaft an dem antisemitischen und rassistischen Machwerk des Volkstestaments Grund zu Trauer und Scham. Als Nachgeborene trifft uns zwar keine Schuld, aber die Verpflichtung zur Erinnerung und zu einer eigenen klaren Stellungnahme dazu.
Lulu hat mit ihrer Kollaboration mit den Nationalsozialisten ihr eigenes Werk diskreditiert, dass bis 1924 nicht als rassistisch oder antisemitisch gelten konnte. Sie hat eigene Romane mit dem Ziel der Wiederveröffentlichung von einer jüdischen Hauptperson “gereinigt” (Das Meerminneke) und den Vorsitz der Anette-von-Droste-Hülshoff-Gesellschaft nach Beseitigung des nicht nazikonformen Vorstands im Zuge der Gleichschaltung übernommen. Alles dies hinterlässt einen tiefen Schatten auf dem Andenken meiner Großtante.
Falko von Strauss und Torney
Quellen:
Gisela Horn: Lulu von Strauß und Torney-Diederichs – ein Beispiel weiblicher Anpassung. In: Gisela Horn (Hrsg.): Entwurf und Wirklichkeit. Frauen in Jena 1900 bis 1933. Rudolstadt 2005, S. 311–324.
Hans Prolingheuer: Das kirchliche „Entjudungsinstitut“ 1939 bis 1945 in der Lutherstadt Eisenach. S. 16, Fußnote 35 (PDF 1,6 MB; abgerufen am 26. Juli 2023).
Birgit Jerke: Wie wurde das Neue Testament zu einem sogenannten Volkstestament „entjudet“? Aus der Arbeit des Eisenacher „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsch kirchliche Leben“. In: Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hrsg.): Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen. Frankfurt am Main 1994, S. 201–234.
Kultur und Kalkül, Der Eugen Diederichs Verlag 1930–1949, Dissertation an der Universität Konstanz, Fachbereich Geschichte/Soziologie, Florian Triebel, München, 2001
Jochen Birkenmeier, Zwischen Aufklärung und Verschleierung, Herbert von Hintzenstern, die Rechtfertigung des „Entjudungsinstituts“ und die Dichterinnen der „Botschaft Gottes“, Stiftung Lutherhaus Eisenach, 2019