Das Vaterhaus
Ansicht von Westen 2017
Text aus einem unveröffentlchten Typoskript
von Lulu von Strauss und Torney:
"Doch hatte die junge Frau. v. Strauss in jenen Jahren wohl nicht allzu viel Zeit für Verkehr übrig, denn dem ersten Töchterchen waren in den nächsten beiden Jahren noch zwei Schwesterchen, Hedwig und Käthe gefolgt.
Es war gut, dass das junge Paar sich für diese rasch wachsende Familie inzwischen auch ein grösseres Heim geschaffen hatte. Schon im ersten Jahr der Ehe war der Plan zu einem eigenen Hause gefasst. Durch seine Stellung beim Fürsten war der junge Ehemann für die Dauer, voraussichtlich für Lebenszeit in der kleinen Vaterstadt sesshaft. Der jungen Frau aus der begüterten und landsässigen Oldenburger Familie lag es wohl von den Vorfahren her im Blute, dass ein Heim ohne eigenen Boden, unter den Füssen und eigenes Dach über dem Kopf auf die Dauer kein richtiges Heim war. Draussen vor dem Neuen Tore lag das Strauss'sche Gartenland, jetzt dauernd verpachtet, weil der Grossmutter mit den Jahren die Bestellung zu viel geworden war. Was lag näher, als ein eigenes Haus dort zu bauen? Mein Vater reiste nach Oldenburg und verhandelte mit Tante Menen, die dem Patenkind ihre Hilfe zusagte. Durch Hypothek auf das Haus wurde das noch Fehlende von Sparkassen beschafft. Das Land überliess der Vater dem jungen Paar.
Zu. jener Zeit herrschte in Norddeutschland die Baumode der Backsteingotik, durch den bekannten Architekten Baurat Hase in Hannover eingeführt und verbreitet, der auch der Stadt Hannover in ganzen Stadtteilen den Stempel dieser Neugotik aufgedrückt hat. Wer etwas Schönes bauen wollte, der baute gotisch. So wurde der Plan des neuen Hauses beim Baurat Hase in Hannover bestellt.
Auf dem Stück Gartenland, wo die Tauflinde meines Vaters stand, die mit dem Knaben gewachsen und nun zum kräftig breitästigen Baume geworden war, wie der Knabe zum. Mann, wurde der Grundstein gelegt.
Während der Bauzeit wurde das junge Paar es nicht müde, immer wieder vors Neue Tor heraus zuwandern und sich am Wachsen des Baues zu freuen, bei seinen Stockungen anzutreiben. In Briefen jenes Frühlings und Sommers wird jede Einzelheit den Abwesenden berichtet. Es wird ein Haus, das nicht nur Stil hat, sondern persönliches Leben. Wie es fertig steht, ist es vom Dach. bis zum Keller voll persönlicher Beziehung. Auf dem Giebel zwischen den Kreuzblumentürmchen steht der grosse schmiedeeiserne Strauss mit dam Hufeisen im Schnabel. Die Kinder, die vorüberlaufen, nennen ihn den Storch mit dem Regenwurm, und unter dem Volk spinnen sich sogar später wunderliche Legenden um den grossen Vogel. So erzahlte mir ein alter Bauer aus Meinsen: das Hufeisen, das der Vogel auf Ihrem Hause im Schnabel hat, ist deswegen da, weil Ihr Vermögen daher kommt. Einer von Ihren Vorfahren hat mal ein Hufeisen gefunden und hat das verkauft, und mit den paar Pfennigen hat er einen Handel oder Geschäft angefangen und ist so zu Vermögen gekommen. Und deshalb zum Andenken. ist das Hufeisen da —
Der Wappenvogel steht aber nicht nur auf dam Dach, er kehrt noch vielfach im und am Hause wieder. Über der Haustür — es ist eine schwere Eichentür mit Nägelbeschlag und. das damalige Meisterstück eines ehrsamen Handwerksgesellen — steht er in Stein gehauen, über dam Wappen mit dem Wappenspruch „deridet equum“- verlacht das Pferd. Tritt man ins Haus herein, so sieht man ihn zu Füssen auf den schönen blaugrünen Fliesen des Flurs, und oben auf dem Treppengeländer des ersten Stocks steht er in Holz geschnitzt, die eine Kralle um. den Rand des Wappenschilds mit den gekreuzten Schwertern geschlagen.
Und auch ausserdem giebts noch allerlei lebendige und. persönliche Dinge, die unsrer Kinderzeit das Haus bunt und. geheimnisvoll machten. Da sind. die Zwergenköpfe, aussen am Haus an den Flachbogen über der späteren " Blauen Stube " nur in farblosem Backstein, innen im unteren Vorplatz aber bunt gemalt mit rotem zweispitzigem Käppchen, ein lebendiges Märchen. Da ist die immer etwas gruselige steinerne Türmchentreppe die man besonders nach unten nie gern zuende ging. Da ist die "Rote Stube" das selten betretene Heiligtum, mit dem kapellenartigen Spitzgewölbe des Türmchens und. der holzfarbig gemalten Decke und Türumrahmung, in welch letzterer über zwei Türspitzbogen die Confirmationssprüche der Eltern stehen. „ Befiehl dem Herrn Deine Wege “ und „Sei getreu bis in den Tod “. Da sind in allen Zimmern die grossen rotbraunen oder grünen Kachelöfen mit den Reliefs von Mutter und Töchterlein, Vater und Söhnchen — der Erzählung nach der Erbauer das Hauses selbst mit den Seinen., von denen der Sohn durch Selbstmord später traurig geendet, was den Bildern noch etwas besonders Merkwürdiges gab — und mit den tausendmal buchstabierten Sprüchen darüber und darunter :
Kunst ohn Gunst ist umbsunst,
Der Ofen ohne Fuer gilt keinen Dreier,
Das Haus ohne Kinder ist wie der Dachstuhl ohne Binder,
Und das Herz ohne Lieb ist ein grosslöchert Sieb.
Glück und Kunst ist Gottes Gunst
Im Ofen lustig Feuer und voll Kom die ganze Scheuer,
Das Herz liebewarm und im Hause Kinderschwarm
Ist Frühling in Winterszeiten, wollts Gott euch stets bereiten.
In diese Schilderungen sind mir zwar die eigenen späteren Kindheitserinnerungen mit untergelaufen, doch war das Haus ja im Wesentlichen seit seiner Erbauung unverändert. Nur die spätere grosse Essstube war damals noch in zwei Stuben geteilt, in der vorderen stand der grosse tannene Esstisch, später Plättstubentisch, und die hintere war Kinderstube.
Meines Vaters beiden Zimmer nach der Seite heraus sind aber, wie aus einer frühen Skizze von seiner Hand ersichtlich, erst später aufgesetzt und existierten damals noch nicht.
Seitwärts an das Haus schloss sich der Hof mit der schönen gegiebelten Hoftür, dem Schuppendach und dem spitzen Türmchen des Hühnerstalls.
Die Gartenanlage mit dem Halbrund von Gebüsch und Bäumen um den sanft gebügelten "Talrasen" war gut zu der Romantik des gotischen Hauses gestimmt. Der Garten zeigt heute noch, dass er so recht mit Liebe angelegt ist, fast alle deutschen. Baumarten sind darin vertreten, Birke, Buche, Tanne, Linde, Kiefer, Platane, Eiche, Akazie, Weide, Faulbaum, Rotdom, Nussbaum, Esche, Eibe, Rotbuche, Lärche, Pappel, Kastanie. dazu Kirsch-, Apfel-, und Birnbäume in grosser Zahl. Um den Garten wurde eine Liguster- und Hainbuchenecke angepflanzt, die mit den Jahren hoch und dicht heranwuchs, nach der Strasse zu schloss er ab mit einem Stück Mauer, das durch eine mehrreihige Tannenpflanzung verdeckt wurde, und zwei schönen schmiedeeiserne Tore mit gotischen Blattwerkfialen. Vorn dicht am Haus, lag die Laube mit den breiten Pfeifenkrautblättem, hinten im Garten war ein halbrunder Sitzplatz um die Tauflinde geschaffen. Die sanft gewundenen Wege waren an den Gebüschen mit Buxbaum eingefasst, der aber mit den Jahren kaum mehr beschnitten wurde und zu kleinen Hecken verwilderte. Blumen gab es nicht allzu viel, besonders seit die grossen Bäume heranwuchsen und zuviel Schatten gaben. Doch sind mir einige altmodische Arten eng zu unserm Garten gehörig, die blauen "Täubchen im Wagen", rosa und dunkelrote Baldrian, Karthäusernelken, dunkellila Iris, und ganz früher auch ein paar Lavendelbüsche. Und immer gab es Rosenbeete mit alten vollblühenden Teerosensträuchem, zwischen denen Reseda wucherte, unsrer Mutter besondere Lieblingsblume, die sie sommers immer in dem weissen alten Oldenburger Glas auf ihrem Tisch stehen hatte.
Seitwärts vom Talrasen, durch ein Gebüsch davon getrennt, lag der Gemüsegarten. Ein. schmaler, gerader Weg führte mittendurch auf die sog. Kinderlinde zu. Da wo später der Stall gebaut wurde, standen Zwetschenbäume an. Der Hecke, und eine kleine Haselnusswildnis. und in der äussersten Ecke bei den. grossen Weiden, gab es sogar einen geheimnisvollen kleinen Teich, der aber mit den Jahren immer mehr versumpfte und schliesslich zugeschüttet wurde.
So gab auch wie erwähnt ausser der Tauflinde und ganz in ihrer Nähe einen zweiten alten Lindenbaum, kleinblättrig mit tiefhängenden Zweigen, in dessen breiter Astgabelung sich förmliche Wohnungen und Nester einrichten liessen und herrliche Sitze waren, wo man sommernachmittags mit einem Buch und einer Tasche voll Kirschen oder Augustäpfel sich verstecken konnte. Sie hiess die Kinderlinde, und unter ihr war, von einer hohen Ligusterhecke umgeben, der sog. Kindergarten, wo aber zu meiner Zeit in dem ewigen feuchten Schatten nichts wuchs als Schneeglöckchen und ein paar versprengte blaue Traubenhyacinthen. Schneeglöckchen gab es überhaupt in den Gebüschen in ganzen Nestern, und bald nach den ersten weissgrünen Spitzen kam dann im Frühling der blaue Schein über dem Talrasen, der ganz voll Veilchen stand.
Im Mai war der ganze Garten eine Blüte. Der alte Kirschbaum am Ende des Gartens zackte sich schneeweiss in den blauen Himmel, der grosse Rotdorn am Talrasen machte die Luft förmlich rosenrot, die Fliederbüsche, die mit den Jahren hoch, dicht und knorrig heranwuchsen, standen alle Jahre überschwenglich in weissen und bläulichen Blütentrauben. Am Haus steckten die Kastanien ihre weissen und erdbeerroten Kerzen auf, der hohle gebückte Hollunder an der Soepstrassenhecke breitete seine weissen Blütenscheiben, hinten im Garten waren die beiden grossen Linden eine bienensummende Wolke von Duft, der Faulbaum am Gemüsegarten blühte, der wilde Wein am Haus duftete betäubend in die Sommerabende, und die drei hohen Akazien streuten weisse Teppiche auf alle Gartenwege. Des Nachts aber sangen und antworteten- sich. die vielen Nachtigallen des Gartens so inbrünstig und unermüdlich, dass meine Mutter - wie eine lustige kleine Hausanekdote wissen will - meinen Vater einmal aus tiefstem Schlaf weckte mit der Frage, ob er auch Watte haben wolle zum Ohrenverstopfen, die Nachtigallen schrieen so laut !
Im Hochsommer - meist gerade in den Ferien - wurden die Himbeeren reif, und es war immer ein Inbegriff von Sommer, wenn zu gleicher Zeit die weissen Lilien am "Langen Beet" blühten, und der gemischte süssschwere Duft beider in der heissen Juliluft lag. Um die Zeit lärmten dann die Stare und Spatzen in dem grossen Kirschbaum, der ganz schwarz voll hing, und man konnte an dem harzigen Stamme hochklettern und sich auch sein Teil holen. Unter den Obstbäumen gab es auch besondere Freunde, und es waren da gewisse Apfelsorten, bei deren Geschmack und Geruch wohl jedem von uns noch heute die ganze Kindheit wieder aufsteigen wird; so die gelben mehlig-süssen Augustäpfel, die sauren frühen "Teichäpfel" und der schöne rotge-streifte "Haustürapfel". Auch die kleinen Honigbimen von dem grossen Birnbaum am Eingang des Gemüsegartens haben diesen Heimatgeschmack. In den Herbstferien wurden dann die Zwetschen reif, auch der Wein an der Südwand des Hauses, letzterer freilich nicht alle Jahr, und in den Oktobernächten polterten die Wallnüsse von dem grossen Nussbaum in den Hof herunter, dass man sie morgens aus der geplatzten grünen Schale auflesen konnte.
Aber auch das Getier, das im Garten hauste und lebte, gehört zu diesen Erinnerungen. Nicht nur die Nachtigallen, von denen ich schon erzählte. In der grossen Lärche hinten im Garten bauten im Hochsommer die grossen blauen Wildtauben, flogen mit klatschendem Flügelschlag und gurrten ihr Ruckuru, Ruckuru. Irgendwo oben aus den Wipfeln kam der goldklare Schlag des Pirols, den man nie zu sehen bekam. In dem grossen Epheubeet unter dem Balkon brütete eines Frühlings eine Fasanenhenne und führte ihre braungestreiften Küchlein auf dem Talrasen, aus. Geheimnisvoll war der rotmützige Specht, der bisweilen angeflogen kam und im Rasen hackte, und in der Krone der grossen Linde schrie das Käuzchen Abends, das man durch Nachahmung seines Rufs ganz nahe locken konnte. Die Fledermäuse kreisten abends flügelknackend über dem Talrasen, verirrten sich auch wohl in die Stuben und hingen mit kummervollen kleinen Bärengesichtern zwischen den zwei Regenschirmen ihrer Flügel in den Vorhangfalten. In der Ecke am Langen Beet hustete der Igel wie ein alter Mann und rollte in der Dämmerung lautlos wie eine graue Schattenkugel über den Weg, und das grösste Entzücken war es für uns Kinder, wenn. einmal drei vier kleine graue Schattenkugeln hintennach huschten. In Herbst jagten sich pfeifend und spiralig um die Baumstämme die Eichhömchen, und einmal fanden die Maurer beim Schneiden des hohen Hausepheus, das immer mit Feuerwehrleitern geschahen musste, ein Nest mit vier Eichhömchenjungen; aber anderntags hatte der Marder, der bisweilen auch nachts auf unseren Dachboden geriet und da gespenstig trappsend nach Mäusen umstieg, ihnen die Kehlen durchgebissen. Auch schneeweisse Wiesel tummelten sich im verschneiten Gemüsegarten, und in harten Wintern kamen die Rehe und Hasen bis ans Haus und frassen die bittern harten Epheublätter, dass die Ranken kahl wurden, so hoch sie reichen konnten.
Alle dieses huschende und heimlich lebende Getier gab unserm Garten für uns etwas Wildnishaftes, verwunschenes, das noch zunahm, wie er mit den Jahren. leise verwahrloste und durch das überhandnehmen der grossen Bäume etwas waldhaft Schattiges bekam, und das ihn anders machte als alle Gärten, die ich kenne. Und wenn ich heute an die Kindheitsheimat denke, so ist es fast mehr noch als das Haus der alte Garten, der dabei vor meinen Augen aufsteigt. --"